Informationen über die "Evolutionäre Erkenntnistheorie"

Feodor am Mo., 14.08.2017 - 22:53

Im Rahmen der Naturwissenschaften ist die Evolution weitgehend als Tatsache anerkannt. Dies schließt auch die evolutionäre Entwicklung von Sinnesorganen ein, mit deren Hilfe sich tierische und menschliche Organismen in ihrer Umwelt orientieren. Die Tatsache, dass sinnliche Wahrnehmungserlebnisse überhaupt stattfinden, wird wohl von keiner erkenntnistheoretischen1 Schule geleugnet. Wenn sich nun die Sinnesorgane evolutionär entwickelten, stellt sich die Frage, welche Sinnesleistungen für das Überleben vorteilhaft waren. Sinnliche Wahrnehmung, die die Umwelt grob inadäquat erfasst, dürfte für einen Organismus kaum nützlich sein. Sinnesorgane allein reichen aber nicht, es braucht noch eine geeignete kognitive Verarbeitung der Sinnesdaten. In der Biologie, Medizin und Neurologie wird angenommen, dass die kognitive Verarbeitung von Sinnesdaten im Gehirn stattfindet, was durch zahlreiche Belege gestützt wird. Des weiteren geht man im wissenschaftliche Mainstream auch davon aus, dass sich der Vorgang des Denkens ganz generell im Gehirn abspielt. Das Gehirn als Überlebensorgan ist ein Ergebnis der Evolution.

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie sagt nun, dass die evolutionär entstandenen Sinnesorgane und das Gehirn die faktischen biologischen Voraussetzungen für die menschliche Erkenntnisfähigkeit sind. Die darauf aufbauende kulturelle Evolution hat zwar keine enge Beziehung mehr zur biologischen, die Erkenntnis kam jedoch kaum plötzlich in die Welt, sondern es gab unterschiedliche Entwicklungsstufen. Diese lassen sich ganz grob als unbewusste Wahrnehmung, vorwissenschaftliche bewusste Erfahrung und schließlich theoretisch kritische wissenschaftliche Erkenntnis charakterisieren. Die biologische Evolution ist nur für die ersten beiden Stufen konstitutiv, der Verlauf der kulturellen Evolution ist nicht biologisch determiniert, die Möglichkeit einer kulturellen Evolution ist aber von evolutionär entwickelten kognitiven Fähigkeiten abhängig.

Soweit die Evolutionäre Erkenntnistheorie in aller Kürze. Da kein Letztbegründungsverfahren für Aussagen über die Welt bekannt ist, lässt sich bislang fast alles abstreiten. Noch nicht einmal für die Anwendbarkeit der Logik ist eine Letztbegründung verfügbar. Damit ist klar, dass sich auch die Evolutionäre Erkenntnistheorie zurückweisen lässt, und das wird tatsächlich getan, insbesondere auch in sehr heftiger Form. Die Anlässe für diese Ablehnung sind unterschiedlich: Dies geschieht beispielsweise aus religiösen, spirituellen, magischen, esoterischen, vitalistischen, idealistischen, antirealistischen Haltungen heraus. Wegen des Weltanschauungs-Bumerang-Effekts2 ist ein Gedankenaustausch oft schwierig oder praktisch unmöglich. Die sich daraus ergebenden Wortgefechte sind in der Regel keine gute Informationsquelle.

Wo finden nun Unentschiedene oder Neugierige Informationen zur Evolutionären Erkenntnistheorie? In Deutschland hat vor allem Gerhard Vollmer einiges dazu veröffentlicht.

  • Der erste Band der Vollmerschen Artikelsammlung "Was können wir wissen?"3 ist das Buch, welches die meisten wichtigen Aspekte behandelt. Es enthält insbesondere auch die nächsten drei Artikel.

  • In "Evolution und Erkenntnis - Zur Kritik an der Evolutionären Erkenntnistheorie"4 geht Vollmer auf insgesamt 25 Einwände gegen die Evolutionäre Erkenntnistheorie ein. Dies dürfte die vollständigste Sammlung aller Kritikpunkte sein und liefert auch umfangreiche Literaturhinweise. Der Artikel stellt daher eine Pflichtlektüre insbesondere auch für Kritiker dar.

  • "Über vermeintliche Zirkel in einer empirisch orientierten Erkenntnistheorie"5 behandelt speziell verschiedene Zirkularitätseinwände.

  • "Kant und die Evolutionäre Erkenntnistheorie"6 beschreibt das Verhältnis zur kantschen Theorie und geht auf Einsprüche von Kantianern ein.

  • Oft wird auch der mit der Evolutionären Erkenntnistheorie verbundene "hypothetische Realismus" kritisiert. In "Wider den Instrumentalismus"7 erläutert Vollmer den Erklärungswert des Realismus. Antirealisten können nämlich den Erfolg oder Misserfolg von Theorien, die Entdeckung von Invarianten oder Konvergenzen in der Wissenschaft nicht erklären.

  • Das klassische Buch "Evolutionäre Erkenntnistheorie"8 von Vollmer gibt es mittlerweile in der 8. Auflage.

Leider gibt es im Web nicht so viel Material. Der Wikipedia-Artikel9 gibt nur grobe Orientierung, in der Stanford Encyclopedia10 existiert ein gut geschriebener Artikel mit Fokus auf amerikanische Literatur. Von Gerhard Vollmer gibt es das Manuskript11 eines Übersichtsvortrags auf den Münchner Wissenschaftstagen 2007.


  1. Erkenntnistheorie, Übersichten im Web, Standford Encyclopedia, Wikipedia deutsch, Wikipedia englisch ↩︎

  2. "Worldview backfire effect", skepticalscience.com, Enlisch, Deutsch ↩︎

  3. Gerhard Vollmer: "Was können wir wissen? Band 1: Die Natur der Erkenntnis", S. 268-322, Hirzel, 1985. ↩︎

  4. Gerhard Vollmer: "Evolution und Erkenntnis - Zur Kritik an der Evolutionären Erkenntnistheorie", in: "Was können wir wissen? Band 1: Die Natur der Erkenntnis", S. 268-322, Hirzel, 1985. ↩︎

  5. Gerhard Vollmer: "Über vermeintliche Zirkel in einer empirisch orientierten Erkenntnistheorie", in: "Was können wir wissen? Band 1: Die Natur der Erkenntnis", S. 268-322, Hirzel, 1985. ↩︎

  6. Gerhard Vollmer: "Kant und die Evolutionäre Erkenntnistheorie", in: "Was können wir wissen? Band 1: Die Natur der Erkenntnis", S. 166-216, Hirzel, 1985. ↩︎

  7. Gerhard Vollmer: "Wider den Instrumentalismus", in: "Wissenschaftstheorie im Einsatz", S.161-182, Hirzel,1993. ↩︎

  8. Gerhard Vollmer: "Evolutionäre Erkenntnistheorie: Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie", 8. Auflage, Hirzel, 2002. ↩︎

  9. Evolutionäre Erkenntnistheorie, Wikipedia ↩︎

  10. Bradie, Michael and Harms, William, "Evolutionary Epistemology", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2017 Edition), Edward N. Zalta (ed.), Web ↩︎

  11. Gerhard Vollmer: "Wieso können wir die Welt erkennen?", Übersichtsvortrag auf den Münchner Wissenschaftstagen - Leben und Kultur, 20.-23. Oktober 2007, PDF, archive.org ↩︎