Ist Ockhams Sparsamkeitsprinzip ein primäres Kriterium?

Feodor am Mi., 16.12.2015 - 16:45

Parsimonie- oder Sparsamkeitsprinzip

Wilhelm von Ockham (1286-1347) hat das nach ihm benannte Prinzip nur implizit angewendet. Dies kommt durch Aussagen wie "eine Vielheit sollte nicht ohne Notwendigkeit angenommen werden" oder "es ist grundlos, etwas mit mehr zu tun, was auch mit weniger erreicht werden kann" zum Ausdruck. Bekannt ist die Formulierung des Philosophen Johannes Clauberg von 1654: "Wesenheiten dürfen nicht ohne Not vermehrt werden". Den Begriff Ockhams Rasiermesser ("novacula Occami") prägte wohl erstmals Libert Froidmont in seinem Werk "Philosophiae christianae de anima libri quatuor" von 1649.

In der heutigen Wissenschaft spielt dieses Prinzip vor allem beim Postulieren unbeobachtbarer Objekte oder Prozesse eine Rolle, mit deren Hilfe beobachtbare Sachverhalte erklärt werden sollen. Vom Urknall über den Elementarteilchenzoo bis zur Evolution beschäftigt sich die Wissenschaft oft mit dem nicht direkt Beobachtbaren. Mittels bloßer Induktion lässt sich aus dem Beobachtbaren nämlich nichts ableiten, was begrifflich über die Datenbasis hinausgeht. Das wissenschaftliche Verfahren arbeitet daher hypothetikodeduktiv (Popper, 1969): Aus den entsprechenden Hypothesen und Theorien müssen sich Prognosen deduzieren lassen, durch die wir die Theorien empirisch prüfen können. Hierbei kommt nun das Sparsamkeitsprinzip als methodische Maxime ins Spiel: Es sollte nicht mehr angenommen werden, als nötig ist, um das Datenmaterial zu erklären.

Häufig wird das Sparsamkeitsprinzip mit Einfachheit gleichgesetzt. Wann eine Theorie einfacher ist als eine konkurriernde, ist jedoch oft schwer festzustellen, da unterschiedliche Kriterien für Einfachheit möglich sind:

  • Mathematische Einfachheit: einfachere mathematische Formalismen,
  • logisch-syntaktische Einfachheit: einfachere formale Struktur,
  • psychologische Einfachheit: größere Anschaulichkeit,
  • methodologische Einfachheit: einfachere Prüfbarkeit,
  • pragmatische Einfachheit: einfachere Anwendbarkeit,
  • semantisch-ontologische Einfachheit: von weniger Objektarten handelnd.

Ohne eingehende Analyse bleibt es daher völlig unklar, wann genau eine Theorie als "einfacher" zu bewerten ist, denn die Einfachheit bezüglich eines Aspektes kann die erhöhte Komplexität hinsichtlich eines anderen Kriteriums zur Folge haben. Die Unsicherheiten in Bezug auf das Sparsamkeitsprinzip werden damit also nicht gelöst, sondern nur auf den Begriff der Einfachheit transformiert.

Gelegentlich wird das Sparsamkeitsprinzip auch mit "Denkökonomie" identifiziert, was auf den Philosophen Richard Avenarius (1843-1896) und den Physiker Ernst Mach (1838-1916) zurückgeht. Dieses Konzept ist mit der Wissenschaftstheorie des Positivismus bzw. Empiriokritizismus verbunden. Nach dieser Auffassung sollte Wissenschaft nicht die Welt erklären sondern sich streng auf das Beobachtbare beschränken. Die Wissenschaft habe daher lediglich die Phänomene (bzw. Erscheinungen) mittels Generalisierung (Induktivismus) und mathematischen Formalismen möglichst ökonomisch zu beschreiben. Nicht direkt beobachtbare Dinge oder Prozesse hinter den Erscheinungen gelten hierbei als unzulässige metaphysische Spekulation. Konsequenterweise hat Mach dann auch die Atomtheorie abgelehnt, womit sich seine Denkökonomie als zu sparsam herausstellte.

Die Furcht vor dem Unbeobachtbaren hat man in der Wissenschaft heute weitgehend überwunden. Dennoch bleiben Überschneidungen zwischen dem Prinzip der Denkökonomie und dem Sparsamkeitsprinzip, wie es heute im wissenschaftlichen Mainstream angewendet wird. Ganz generell sollte von zwei oder mehr Theorien, die die gleichen Voraussagen machen, zunächst diejenige bevorzugt werden, die mit weniger Faktoren und Grundannahmen auskommt. Wegen des positivistischen Kontextes sollte das Sparsamkeitsprinzip aber nicht einfach mit dem Begriff der Denkökonomie identifiziert werden.

Ockhams Rasiermesser liefert jedoch kein sicheres Wahrheitskriterium, sondern begründet allenfalls gewisse Präferenzen. Es ist ein Hilfsmittel zur vergleichenden Bewertung von Theorien, die die gleichen Vorhersagen machen, so dass sich auf empirischer Basis keine Auswahl treffen lässt.

Das Sparsamkeitsprinzip ist nur eines von mehreren Bewertungskriterien für Theorien. Weitere Gesichtspunkte sind Zirkelschlussfreiheit, interne und externe Widerspruchsfreiheit, Kritisierbarkeit, Testerfolg, weitestgehende Willkürfreiheit und Problemlösungspotenzial. Sparsamkeit ist insbesondere nicht das primäre Gütekriterium. Testerfolg, Kritisierbarkeit, Widerspruchsfreiheit und Problemlösepotenzial sind wichtiger als Sparsamkeit. Die sparsamste Theorie ist nichts wert, wenn sie falsche Vorhersagen macht. Eine Theorie, die beliebiges vorhersagt, sagt letztlich nichts vorher. Eine komplizierte widerspruchsfreie Theorie ist einer einfacheren inkonsistenten vorzuziehen. Eine vereinheitlichende Theorie mit großem Problemlösepotenzial ist einer spezielleren und einfacheren vorzuziehen, wenn sich letztere als bedeutend weniger heuristisch fruchtbar herausstellt.

Das Sparsamkeitsprinzip ist ein methodisches Prinzip und kein ontologisches. Es bedeutet nicht, dass die Welt sparsam oder einfach ist, sondern dass wir beim Aufstellen von Hypothesen sparsam vorgehen sollen. Das Prinzip wird jedoch meist mit einem ontologischen Konzept verbunden, das aussagt, dass es in der Welt stets mit "rechten Dingen", d.h. naturgesetzkompatibel zugeht. Dies ist unter dem Namen Naturalismus bekannt und besteht in dem Postulat, dass übernatürliche (nicht an Naturgesetze gebundene) Entitäten wie etwa Götter, Engel oder Geister nicht ins Weltgeschehen eingreifen und die physikalischen Symmetrieprinzipien ohne Ausnahme gelten. Naturalismus wird oft mit Realismus (die Welt existiert geistunabhängig und ist teilweise erkennbar) oder Materialismus (die Welt besteht nur aus materiellen Gegenständen) verwechselt.

Durch Anwendung des Sparsamkeitsprinzips allein lässt sich nun keine Präferenz für die naturalistische und gegen die supernaturalistische Auffassung ableiten. Zwar wird gelegentlich behauptet, natürliche Erklärungen seien grundsätzlich sparsamer als solche, die auf übernatürliche Faktoren verweisen. Ist die Erklärung sämtlicher Vorgänge in der Welt durch einen einzigen Gott (Occasionalismus) wirklich weniger sparsam als eine natürliche, wissenschaftliche Erklärung, welche auf zahlreichen und enorm komplexen Faktoren beruht? Im Supranaturalismus ließen sich komplexe Erscheinungen nämlich auch einfach als Illusion und damit als Scheinproblem wegerklären.

Der entscheidende Einwand gegen den Occasionalismus ist aber nicht dessen vermutete fehlende Sparsamkeit sondern seine fehlende Kritisierbarkeit. Der Occasionalismus ist mit beliebigen Ereignissen in der Welt kompatibel, wissenschaftliche Modelle machen hingegen Aussagen darüber, welche Ereignisse nicht vorkommen dürfen. So können wissenschaftliche Theorien an der Erfahrung scheitern, der Occasionalismus jedoch nicht.

Erst wenn das Sparsamkeitsprinzip im Rahmen des Naturalismus angewendet wird, sind natürliche Erklärungen sparsamer als Erklärungen, die zusätzlich noch übernatürliche Wesenheiten mit einführen. Dass das Sparsamkeitsprinzip kein primäres Kriterium zur Auswahl von Theorien sein kann, erkennt man auch daran, dass z.B. der Solipsisimus ebenfalls äußerst "sparsam" daherkommt.

Zum Schluss sei noch kurz auf drei randständige Aspekte eingegangen:

  • Sind einfachere Theorien "bescheidener" und daher aufgrund normativer Überlegungen zu bevorzugen? Bescheidenheit ist jedoch im Gegensatz zu Attributen wie Adäquatheit, Konsistenz, Prüfbarkeit etc. kein sinnvolles Prädikat wissenschaftlicher Theorien. Der Begriff der Bescheidenheit hat vielmehr einen sozialen oder religiösen Bezugsbereich. Es kann nicht die Aufgabe von Wissenschaft sein, Adäquatheit einer wie auch immer gearteten "Bescheidenheit" zu opfern.
  • Ist es sparsamer und daher zu bevorzugen, das Postulat einer vom Bewusstsein unabhängigen Realität, die auf uns einwirkt, fallen zu lassen? Sparsamer ja, zu bevorzugen nein. In der Evolutionstheorie wird das Konzept Realität z.B. benötigt, um evolutionäre Passungen zu erklären. Auch 130 Jahre nach dem Tod Darwins scheinen aber immer noch einige Philosophen auf Kriegsfuß mit der Evolutionstheorie zu stehen.
  • Sollte aufgrund von Sparsamkeitserwägungen gar die Suche nach wissenschaftlichen Erklärungen für das Weltgeschehen aufgegeben werden? Darin scheinen sich manche Religionsführer mit einigen Phänomenalisten einig zu sein. Das führte letztlich dazu, dass man sich auf Symptome beschränkte, die sie hervorbringenden Ursachen und Mechanismen ignorierte und wissenschaftliche Theorien lediglich als nützliches Instrument der Daseinsbewältigung auffasste. Ein Projekt wie die Kosmologie erschiene in diesem Kontext weitgehend sinnlos. Abgesehen davon, dass ein instrumentalistischer Wahrheitsbegriff dysfunktional ist, scheint die Forderung, dass Homo sapiens die Suche nach der Wahrheit aufgeben solle, auch eher lebensfremd zu sein.

Literatur

[1] "Wilhelm von Ockham" bei de.wikipedia.org

[2] "Libert Froidmont" bei de.wikipedia.org

[3] "Occam's razor" bei en.wikipedia.org

[4] Martin Mahner: "Sparsamkeitsprinzip (Ockhams Rasiermesser)" Skeptiker 4, 2014, 179-181.

[5] Martin Mahner: "Phänomen und Phänomenalismus", Naturwissenschaftliche Rundschau 67 (10), 2014, S. 549-550.

[6] Martin Mahner: "Sparsamkeitsprinzip", Naturwissenschaftliche Rundschau 55, 2002, 117-118.