In geisteswissenschaftlichen und speziell philosophischen Texten findet man gelegentlich Vokabularium, bei dem von Ansprüchen, Recht und Macht die Rede ist. Im Kontext mit den Themen der Texte, kommen mir diese Begriffe oft seltsam vor. Nebenbedeutungen wecken negative Assoziationen, die Bezugnahme auf fachfremde Bereiche irritiert und anklagende Sozialkonstruktivismen wirken überzogen.
Das führt jedenfalls dazu, dass ich diesen Jargon meide. Im folgenden erläutere ich dies anhand einiger Beispiele.
Anspruchsdenken?
Das Wort "Anspruch" kommt im Rahmen der Geisteswissenschaften u.a. in folgenden Zusammensetzungen vor:
Deutungsanspruch, Erklärungsanspruch, Geltungsanspruch
Der Duden erläutert "Anspruch" zum einen im Sinne einer Forderung, zum anderen im Kontext eines Rechts oder Anrechts und des weiteren auch in Verbindung mit Niveau oder Qualität.1 Die ersten beiden Bedeutungen weisen in den Bereich des Juristischen. Bildungssprachlich soll das Wort laut Duden auch synonym mit "Prätention" (Anmaßung) in Gebrauch sein.
Das Institut für Deutsche Sprache definiert "Geltungsanspruch" demgegenüber wie folgt: "Geltungsansprüche sind, was Sprecher oder Schreiber einbringen, wenn sie Feststellungen treffen oder Aufforderungen an jemanden richten, also Ansprüche auf Wahrheit oder Ansprüche auf Befolgung. Beansprucht wird, dass sich - im Fall einer Feststellung - die Dinge so verhalten oder - im Fall einer Aufforderung - vom Adressaten so zu realisieren sind, wie sie die vorgebrachte Proposition darstellt."2 "Anspruch auf Wahrheit erheben" hat wiederum einen Anflug von Juristerei.
Wenn man sich anschaut, in welchen Zusammensetzungen das Wort "Anspruch" noch vorkommt, so fallen unangenehme Begriffe wie Anspruchsdenken, Absolutheitsanspruch, Machtanspruch, Gebietsanspruch oder Herrschaftsanspruch ins Auge. All dies verleiht dem Wort "Anspruch" insgesamt eine eher unerquickliche oder sogar abschätzige Konnotation. Das ließe sich jedoch oft leicht vermeiden, wenn man statt einen "Anspruch auf Wahrheit zu erheben" einfach sagte, dass die "Wahrheit einer Aussage behauptet" werde.
Auch wenn die Vokabel "Geltungsanspruch" üblich ist und auch oft neutral gemeint ist, bleibt der abwertende Kontext sicher dennoch manchmal beabsichtigt. In der Philosophie gibt es schließlich viel erbittert ausgetragenen und langanhaltenden Streit. Wenn z.B. ein idealistisch gestimmter Philosoph den "Erklärungsanspruch", den etwa Evolutionstheoretiker "erheben", zurückweist, kann man durchaus eine pejorative Wertung vermuten. Wegen des implizit abwertenden Kontextes vermeide ich daher generell die Vokabel "Anspruch" im Zusammenhang mit der mehr oder weniger großen Adäquatheit von Aussagen. Um die Unplausibilität einer Aussage nahe zu legen, ist es besser, ihre absurden Konsequenzen darzulegen oder auf damit inkompatible Tatsachen hinzuweisen.
Zur Vorliebe von Geisteswissenschaftlern für Begriffe mit juristischem Hintergrund sei mehr im nächsten Abschnitt gesagt.
Recht?
Um zu bewerten, ob ein System von Aussagen Verhältnisse in der Wirklichkeit adäquat beschreibt, werden oft Begriffe aus dem Bereich des Rechts verwendet, etwa:
Berechtigung, Gerichtshof der Vernunft, Legitimierung, Rechtfertigung, Rechtmäßigkeit
Rudolf Eisler3 weist darauf hin, dass Kant4 den Begriff der "Deduktion" in einen juristischen Zusammenhang stellt, wenn er schreibt, dass die Rechtslehrer unter "Deduktion" den Beweis der Befugnis oder des Rechtes (des quid iuris) im Unterschiede von dem Beweis der Tatsache (des quid facti) verstünden. Erfahrungsunabhängige Begriffe, wie etwa die Kategorien, bräuchten eine Deduktion, d.h. eine "Rechtfertigung ihres Gebrauchs." Kant benutzt5 auch das Bild vom "Gerichtshof" der Vernunft, bei dem die Vernunft Kläger, Angeklagter und Richter zugleich sei.6 Im üblichen Sprachgebrauch7 wird unter Deduktion jedoch ein logisch zwingender Schluss von gegebenen Prämissen auf die Konsequenzen verstanden. In der Praxis wird oft auch dann noch von "Rechtfertigung" gesprochen, wenn es um Tatsachenaussagen geht. So wird etwa gefragt, ob es gerechtfertigt sei, anzunehmen, dass Homo sapiens im Rahmen der Evolution entstand.
Die juristische Metaphorik erscheint mir trotz ihrer weiten Verbreitung unglücklich. Was im juristischen Sinne rechtmäßig ist und was nicht, wird schließlich durch das Grundgesetz im Artikel 5 festgestellt8, im Zweifelsfall vor Gericht überprüft und nicht im Rahmen philosophischer Diskurse festgelegt. Juristisch ist es nämlich rechtmäßig, wenn jemand behauptet, dass es den Pumuckl gibt, auch wenn letzteres höchst unplausibel erscheint. Wenn gefragt wird, mit welchem "Recht" ein bestimmter Schluss gezogen werden dürfe, lässt sich die Antwort in Deutschland im GG-Art-5 finden. Ob ein Schluss jedoch als logisch konsistent anzusehen ist, entscheidet sich an seiner Widerspruchsfreiheit. Irrtumsanfällige Schlüsse, wie etwa den Schluss auf die beste Erklärung beurteilt man anhand der Faktenlage und dem Hintergrundwissen.
Bei der Bezugnahme auf Legitimierung, Rechtfertigung oder Rechtmäßigkeit wird im übrigen oft implizit nach einer Letztbegründung für Aussagen über die Wirklichkeit gefragt. Bislang ist aber kein Verfahren zur Letztbegründung bekannt9, so dass die Frage nach Rechtfertigung im Sinne eines unfehlbaren Nachweises ohnehin ins Leere läuft. Man sollte besser von mehr oder weniger belegten oder plausiblen Aussagen reden.
Machtspiele?
In philosophischen Texten geht es oft auch darum, welche Systeme von Aussagen Verhältnisse in der Wirklichkeit mehr oder weniger adäquat beschreiben oder erklären. Im Zusammenhang mit dem Erfolg von Konzepten, die der jeweilige Autor als unangemessen empfindet, werden hierbei öfters Begrifflichkeiten verwendet, die im Kontext mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen stehen:
Benennungsmacht, Definitionsmacht, Deutungselite, Deutungshoheit, Diskurshoheit, Erklärungsprivileg, Lufthoheit
Der Erfolg der abgelehnten Konzepte wird damit implizit auf Handlungen einer angeblich mit Privilegien ausgestatteten Elite zurückgeführt, die ihre "Macht" in verschiedenerlei Form10 "hoheitlich" ausübt. Es wird also angedeutet, dass die Akzeptanz von Konzepten einseitig mit letztlich illegitimen Machtmitteln durchgesetzt werde, indem man alternative Konzepte unterdrücke. Der Terminus "Lufthohheit" hat sogar eine militärische Konnotation.
Per "Benennungs-"11 und "Definitionsmacht"12 werde die Konstruktion von Wirklichkeit einseitig durchgesetzt. "Privilegien" schüfen das Vorrecht13 der "Deutungshoheit", d.h. der alleinigen Befugnis oder des Rechts, etwas zu deuten oder zu interpretieren14. Sogar die "konkrete Umsetzung eines Letztbegründungsanspruches zu Gunsten dessen, was ein Träger der Deutungshoheit als Berechtigung und/oder Wahrheit zu erkennen glaubt" wird nahegelegt15. Hierdurch werde die "Diskurshoheit" erlangt und man könne darüber bestimmen, was als wahr und was als falsch zu gelten habe, und Gegenargumente würden so unabhängig von ihrer Qualität neutralisiert.16
Auf diese Weise wird von den Autoren implizit angedeutet, dass die eigenen Konzepte autoritär unterdrückt würden. In totalitären Staaten kommt dies sicher vor, so dass die Bezugnahme auf hoheitliche Macht und Privilegien angemessen erscheint.
Die Attributierung der eigenen Thesen als unfair unterdrückt wird aber auch dann praktiziert, wenn überhaupt nicht erkennbar ist, dass im einschlägigen Fall irgendwelche relevanten Beschränkungen der Publikationsfreiheit vorliegen. So beklagt dann etwa ein mit sicherem Professorengehalt ausgestatteter Autor, der all seine Thesen ohne Schwierigkeiten veröffentlichen kann, beispielsweise die seiner Meinung nach unangemessene "Deutungshoheit" von Evolutionsbiologen oder das angebliche "Erklärungsprivileg" von Naturwissenschaftlern. Es gibt in Deutschland aber kein "Erklärungsprivileg", denn im Artikel 5 des Grundgesetzes ist festgelegt: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei."17 So können religiös orientierte Professoren18 schließlich ungehindert die Evolutionstheorie kritisieren19. Dies darf dann allerdings auch wieder kritisiert werden. Demgegenüber lässt sich den Koran-Theologen in Saudi Arabien sicher ein echtes Erklärungsprivileg zuschreiben, denn dort ist die Verbreitung der Evolutionstheorie verboten.
Ich bin daher der Meinung, dass das obige sozialkonstruktivistische Vokabular zumindest manchmal von Autoren dazu missbraucht wird, sich selbst als ungerecht unterdrückte Minderheit darzustellen und Vertreter anderer Positionen gleichzeitig zu desavourieren, ohne dass es hierfür eine andere Faktengrundlage gibt, als den Erfolg oder Misserfolg von unterschiedlichen Konzepten. In diesen Fällen sollte eine Sachargumentation angemahnt werden.
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Geltungsanspruch, ids-mannheim.de ↩︎
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Transzendentale Deduktion, Rudolf Eisler ↩︎
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Immanuel Kant: "Kritik der reinen Vernunft", 2. Auflage, 1787, Akademieausgabe, S.99f, korpora.org ↩︎
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Immanuel Kant: "Kritik der reinen Vernunft", 2. Auflage, 1787, Akademieausgabe, S.491, korpora.org ↩︎
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Bedeutung des Titels "Kritik der reinen Vernunft", Wikipedia ↩︎
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Artikel 5 Grundgesetz, Wikipedia, Meinungsfreiheit und die Rechtslage in Deutschland, Wikipedia ↩︎
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Benennungsmacht, wirtschaftslexikon.co ↩︎
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Diskurshoheit, wikimannia.org ↩︎
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Forschungsfreiheit, Wikipedia; Akademische Freiheit, Wikipedia ↩︎
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Professorenforum, professorenforum.de ↩︎
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Kritik an der Evolutionstheorie, professorenforum.de, Webseite, archive.org ↩︎