Philosophischer Zorn und der Bumerang-Effekt

Feodor am Mi., 26.07.2017 - 13:35

Auf den ausführlich belegten zweiteiligen Artikel über Kants Apriori gab es stilistisch bemerkenswerte Kommentare. Bei philosophischen Themen im Allgemeinen und bei Kant im Besonderen sind emotionale Reaktionen von Geisteswissenschaftlern zu erwarten, wenn etwa darauf hingewiesen wird, dass ältere Konzepte vielleicht doch überholt sein könnten. Vor diesen Ausbrüchen schützen auch noch so ausführliche Belegstellen nicht. Zur Illustration seien hier 50 rhetorische Glanzlichter herausgegriffen:

(Zitate überspringen für Ungeduldige)

  1. Leute ... die Philosophie bloß simulieren
  2. lediglich von den Resten eines Gebrühs aus ... Sekundär- und Tertiärliteratur zehren
  3. vorspiegelnd, es würde (mit Kompetenz und Verstand) selbst Gekochtes serviert
  4. zehn Meilen gegen den Wind nach billiger Beutelsuppe aus dem Discounter im Zentrum von Ideologistan stinkt
  5. wenn die Sülze, welche darunter begriffen ist, diesen Namen nicht wirklich verdient
  6. mit idiotischen Termen ... lustig mythologisiert
  7. altbekannter, kant-verstümmelnder Blubber
  8. ignorant, weil jegliches Gegenargument stumpf wie beim Quaken der Frösche im immergleich-stupiden Tenor abgewiesen wird
  9. unter der Gürtellinie, weil die Veranstaltung natürlich ideologisch unterfüttert
  10. nicht ... über den eigenen Tellerrand zu blicken, selbst dann nicht, wenn die im Teller servierte Suppe erbärmlich schmeckt
  11. ausschließlich ... quasi-religiösen (NW-)Glauben zu befestigen
  12. stellt in beinahe zu konstatierender Reinform dar, was man einen Fetischisten nennt
  13. von so einem Subjekt nicht erwarten dürfen, daß er aufgrund einer rationalen Kritik von dem Fetisch abläßt
  14. stinkt ... von deinen ... abgelassenen pseudointellektuellen Pupsen
  15. ideologischer Dunst
  16. verstänkere doch bitte andere Örtlichkeiten
  17. deine merkwürdigen, jedenfalls a-philosophischen Gelüste
  18. Bekenntnis-, missions- und glaubensfreudige Hasenställe und -zuchtvereine
  19. fest eingeschriebenem Dogmenapparat
  20. irrwitzige Fabeleien solcher Missionare
  21. Groß-Mythologen
  22. mit infantilen Bräuchen kritikimmun machen
  23. schlicht an Dämlichkeit kaum noch überbietbar
  24. psycho-pathologische Aspekte
  25. weil du ... den Zusammenhang gar nicht verstehst
  26. daneben auch noch ein ideologisch präformiertes armes Würstchen mit "Hang zum Höheren" bist
  27. Du schnallst es immer noch nicht. Du wirst es wohl niemals schnallen!
  28. bloß von ideologischen Missionsbestrebungen und idiotischen "Weltbild-Generierungen"
  29. Das behauptet jemand, der nun aber rein gar nichts schnallt
  30. vorzügliche Mittel der Wahl ... das Erwecken falscher Eindrücke ist
  31. die mythologische Märchenwelt der sog. "Evolutionären Erkenntnistheorie"
  32. mythologisches Gesprudel
  33. ein prominentes mythologisches Procedere
  34. mythologischer Schwall an leeren Wörtern
  35. stußschwabbelnden Nonsense-Sprechens
  36. mythologisierten "Passungen"
  37. pseudowissenschaftlichen Dada greifen
  38. worthülsen-wertige "Gründe"
  39. in Wahrheit Voodoo!
  40. schlägt dann vollends der mythologische Wahnwitz durch
  41. mythologischen und durch und durch zirkulären Gestammel
  42. von Voodoo geprägten Gespinnst
  43. sich "wissenschaftlich" nur tarnt
  44. merkbefreit, weil auf zirkulärer Schwuchtelei beruhend
  45. mit seinem Geschnatter
  46. von starken Missionsbestrebungen befestigt
  47. von einem reichen Dogmenapparat innerlich durchwirkt
  48. seinem u.a. auch biologistischen Wahn
  49. quasi-religiösen und auch biologistischen Glaubenssystem
  50. ideologische Verblendung in Tateinheit mit der Herbeiführung von Falschaussagen zum Behuf unrechtmäßiger Denunzierung der Gegner

Bei der "Sekundärliteratur" muss es sich wohl um Kants "Kritik der reinen Vernunft" handeln, auf die ausgiebig verwiesen wurde.

Abwegig ist auch das Attribut "unter der Gürtellinie", denn hier wirft offenbar jemand Felsbrocken, der im Glashaus sitzt.

Durch das großzügig verwendete Prädikat "mythologisch" werden Konzepte wie etwa das der Augenevolution "gewürdigt". Moniert wird hierbei, dass dieses Konzept nur dann Sinn ergibt, wenn die elektromagnetische Strahlung, an die sich das Auge anpasste, auch bereits vor dem Auftauchen von Lebewesen existent war. Dies sei aber eine "mythologische Märchenwelt", d.h. ein (aus verschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifizierter Sachverhalt.

Nach "mythologisch" (9x) ist "ideologisch" (6x) das zweitbeliebteste Prädikat, was gewiss im Sinne der negativ besetzten Bedeutung gemeint ist, d.h. als eine erstarrte, dogmatische Meinung, die mit der Absicht vertreten wird, andere oder sich selbst zu täuschen. Um "ideologischen Dunst" soll es sich etwa handeln, wenn angenommen wird, dass Denken nur im Kopf stattfinde. Dafür, dass Denken im Kopf realisiert ist, gibt es jedoch viele Belege, es gibt aber eher keinen Beleg für geheimnisvolle geistige Entitäten oder Eigenschaften.

Bei einem hohen Anteil der "Bewertungen" weist sich der wütende Autor implizit selbst eine hohe Kompetenz zu, dem Diskussions"partner" und den zitierten Autoren wird freilich pauschal jeglicher Verstand abgesprochen.

"Biologistischer Wahn" bezieht sich etwa auf Aussagen wie diese: "Die Sinne liefern uns überlebensadäquate Informationen über die reale Außenwelt." Die Zuweisung von "Wahn" erscheint hier "ein wenig" vorschnell.

Beim Zitat Nr. 50 kommt die geisteswissenschaftliche Bildung des Autors durch die Verwendung des veralteten Begriffes "Behuf" (für Zweck) zum Vorschein. Dies wäre sicher auch forensisch relevant, wenn man denn "Herbeiführung von Falschaussagen zum Behuf unrechtmäßiger Denunzierung" als üble Nachrede nach §186 StGB auffassen wollte, was bislang für mich aber nicht ansteht. Insgesamt ließe sich das Ganze sicher problemlos als Schmähkritik nach §185 StGB auffassen, aber meine Wenigkeit sieht das eher als gewöhnliche "Internet-Sudelei" (nach Gunter Dueck in "Flachsinn") an. Gebildete Wutbürger sind freilich nicht um Euphemismen verlegen und bezeichnen das verniedlichend als "harsche Zurückweisung."

Wir haben es mit einem ausgiebigen Gebrauch rhetorischer "Kloppe-Meinungsverstärker" nach dem Motto "Diskutierst du noch oder überzeugst du schon?" zu tun. Es zeigt sich ein impulsiv-feindseliges Verhalten, das vielleicht auf eine durch unzureichende Frustrationstoleranz verursachte, eingeschränkte Handlungskontrolle zurückgehen könnte.

Auf psychologischer Ebene ist aber vor allem der sog. Backfire Effect oder auch Bumerang-Effekt wichtig. Hierzu1 aus rationalwiki.org:

The backfire effect occurs when, in the face of contradictory evidence, established beliefs do not change but actually get stronger. The effect has been demonstrated experimentally in psychological tests, where subjects are given data that either reinforces or goes against their existing biases - and in most cases people can be shown to increase their confidence in their prior position regardless of the evidence they were faced with. In a pessimistic sense, this makes most refutations useless.

Da der Bumerang-Effekt sich bereits bei der Diskussion über recht gut prüfbare Fakten zeigt, ist zu erwarten, dass er bei der Diskussion philosophischer Fragestellungen und alternativer Erklärungsmöglichkeiten ausgesprochen deutlich hervortritt. Das scheint zunächst einmal nahezulegen, dass sich Sachbeiträge vielleicht ganz generell nur an noch unentschiedene Personen richten können. Das ist aber noch Gegenstand der psychologischen Forschung.2 Ließe sich der Einfluss des Bumerang-Effektes vielleicht mildern? John Cook und Stephan Lewandowsky haben hierzu das Debunking Handbook verfasst, das es auch auf deutsch gibt.

Im Hinblick auf den attackierten Kant-Artikel sind vor allem zwei Effekte schwer zu vermeiden.

  1. 130 Fußnoten scheinen den Bumerang-Effekt wegen Informationsüberladung ("Overkill Backfire Effect") besonders relevant zu machen. Im Internet-Slang heißt es dann tl;dr also "too long, didn't read". Die Fußnoten wegzulassen, war aber keine Option, denn in der Geisteswissenschaft wird leider manchmal einfach etwas abgestritten. Des weiteren sollte Lesern die Möglichkeit gegeben werden, gleich möglichst viel selbst nachzuprüfen. Es wurde auch versucht, die Sprache besser lesbar zu gestalten, als das bei diesem Thema üblicherweise der Fall ist. Schließlich können sich Leser auch gleich zum Fazit durchklicken.

  2. Noch wichtiger dürfte jedoch der Weltanschauungs-Bumerang-Effekt ("Worldview Backfire Effect") sein. Grundlage hierfür ist der Bestätigungsfehler, der dann noch weiter zu einer Polarisierung der Haltungen führt. Bestätigungsfehler sind vor allem dann zu erwarten, wenn eine Haltung zeitaufwändig gewonnen wurde und ihre Bestätigung mit einem positiven Gefühl belegt ist. Der im "Debunking-Handbook" gemachte Vorschlag, Informationen so "einzurahmen", dass sie weniger bedrohlich für die Weltanschauung der Person erscheinen, ist bei philosophischen Themen schwer oder kaum machbar. Man kann z.B. darauf hinweisen, dass im Rahmen eines wissenschaftlichen Weltbildes auch Konzepte plausibel werden können, die für den Einzelnen vielleicht unangenehm sind. Auch sollte man versichern, dass die Personen ja bei ihrer Haltung bleiben können. Alles was man tun kann, ist es schließlich, die verschiedenen Denkmodelle nebeneinander zu stellen und ihre Vorzüge und Nachteile möglichst sachorientiert aufzuzählen. Wenn aber die bloße Existenz abweichender philosophischer Konzepte bereits als emotionaler Affront oder Bedrohung durch Konkurrenz angesehen wird, nutzt das wohl alles nichts.

Schließlich bleibt noch die wichtige Frage, welche Konzepte denn zumindest vorläufig als adäquat gelten könnten? Dazu bräuchte man eine akzeptierte Metatheorie über wünschenswerte Eigenschaften von Theorien. Um einem Dogmatismus vorzubeugen, sollte auch jeweils angegeben werden, unter welchen Umständen eine bestimmte Position aufgegeben würde.


  1. Siehe auch bigthink.com und skeptiker.ch oder karrierebibel.de ↩︎

  2. "Backfire Effect Not Significant", theness.com ↩︎