Ein Wahrnehmungsbericht ist nach dem berühmten Philosophen Kant1 kein Bericht über die reale Außenwelt2. Damit könnten wir auch in der "Matrix"3 leben. Die Möglichkeit, dass uns eine "rote Pille" daraus befreite, wäre dabei prinzipiell ausgeschlossen. Das liegt daran, dass wir laut Kant über die Außenwelt der "Dinge an sich selbst" niemals etwas lernen, da diese für uns immer "gänzlich unbekannt" [1a] bleiben muss. Was "gänzlich unbekannt" ist, kann aber beliebig strukturiert sein. Der kantsche Begriff des "äußeren Gegenstands" könnte zwar leicht mit dem des real existierenden Objektes verwechselt werden, es ist jedoch immer nur ein mentales Konstrukt4 gemeint. Wir nehmen keine realen äußeren Objekte wahr, sondern nur Sinnesdaten [1b] (Erscheinungen bzw. Vorstellungen), die der Verstand zu "Gegenständen" (modern: Konstrukten) formt. Zwischen der realen Außenwelt und den Konstrukten gibt es keinerlei bekannte Beziehung außer der, dass die Außenwelt existiert und auf unbekannte Art unsere Sinne "affiziert".
Im Alltag sind hingegen fast alle Menschen eher gemäßigt kritische Realisten. Das gilt auch für Wissenschaftler, wie etwa Physiker, Chemiker, Biologen oder Neurologen. So gehen Meteorologen meist davon aus, dass Wettersatelliten tatsächlich subjektunabhängige Daten über die Erdatmosphäre "an sich" liefern, und Biologen postulieren, dass sie bei der Tierbeobachtung Informationen über die Tiere selbst gewinnen und nicht nur Informationen über Sinnesdaten, die der Verstand als Tiere interpretiert. Ein Wahrnehmungsbericht bleibt hierbei immer ein Bericht über die reale Außenwelt.
Dass in der Praxis fast immer eine zumindest partiell erkennbare äußere Realität unterstellt wird, ist zwar kein Beweis für die Adäquatheit dieser Annahme, es zeigt aber, dass das kantsche Denken einen Preis hat: Es wirkt absurd sowohl im alltäglichen als auch im (real-)wissenschaftlichen Rahmen.5 Hinzu kommt noch, dass Kant nicht beweisen kann, dass uns die Wahrnehmung nicht doch über gewisse Eigenschaften der Außenwelt informiert. Die Absurdität des kantschen Ansatzes für den Common-Sense wird normalerweise sprachlich verschleiert. Kantianer sprechen eher nicht von "der Matrix", sondern spielen das Problem der realen Außenwelt herunter, indem sie z.B. von den "Dingen für uns" sprechen. Das täuscht so manchen Leser: Hier ist nämlich nicht von Dingen in der realen Außenwelt die Rede, die ja schließlich "gänzlich unbekannt" bleiben müssen, sondern nur von Konstrukten (interpretierten Sinnesdaten oder subjektabhängigen Empfindungen), die auf völlig unbekannte Art von der Außenwelt "affiziert" werden.
Der empirische Teil der kantschen Erkenntnisphilosopie gehört zum sog. Ideismus [2], der Theorie, dass uns die Sinne kein Wissen über die Außenwelt geben, sondern nur Wissen über Erscheinungen oder Ideen. Den Ideismus gibt es in verschiedenen Geschmacksrichtungen: Bei Berkeley wurde er zum reinen Idealismus (Sein ist wahrgenommen werden), bei dem Gott die Konstanz der Wahrnehmungen garantiert. Kant behielt hingegen die Dinge an sich, nahm sie aber als unerkennbar an. Schließlich gibt es noch "Berkeley ohne Gott", den reinen Phänomenalismus. Der Ideismus wurde zur Abwehr skeptischer Argumente entwickelt: Wenn nämlich Wahrnehmungen nicht mehr über die Außenwelt informieren, kann es auch keine kritischen Fragen hinsichtlich der Beziehung zwischen Wahrnehmung und Außenwelt mehr geben. Während wir nach Kant absolut unwissend bleiben darüber, wie die Welt an sich ist, sind wir doch sicher darüber, wie sie uns erscheint. So haben wir die Wahl: perfektes Wissen über fast nichts oder hypothetisches Wissen über die reale Welt? Da wir perfektes Wissen aktuell ohnehin (noch?) nicht kennen, ist dies allerdings keine echte Wahl [3].
Kant hat sich zwar bekanntlich große Mühe gegeben, seien Ideismus nicht zum reinen Idealismus (es gibt nur Ideen oder Sinnesdaten sowie Bewusstsein) werden zu lassen. Seine unter dem Namen schwacher Realismus [4] bekannte resignative Lösung des Außenweltproblems scheint dennoch reichlich inkompatibel mit den Zielsetzungen zumindest einiger Realwissenschaften, denn mit dem Phänomenalismus geht den Realwissenschaften schließlich ihr Untersuchungsgegenstand, die Außenwelt verloren. Etwas, das nach Voraussetzung absolut unerkennbar ist, lässt sich definitionsgemäß nicht untersuchen. So ergibt es wenig Sinn, immer größere Teleskope zu bauen, um Daten über ferne astronomische Objekte zu sammeln, wenn diese Objekte (Sterne, Gasnebel, Galaxien etc.) ohnehin "an sich" prinzipiell unerkennbar sein müssen. Warum sollten wir 1 Mrd Euro ausgeben, um die Sonde Rosetta zu bauen, über die wir zunächst "an sich" nichts wissen können, die dann auch noch zum fernen Kometen Tschurjumow-Gerassimenko fliegen soll, über den wir "an sich" auch nichts wissen können? Warum sollten wir gar 3 Mrd Euro für den Large Hadron Collider ausgeben, um damit das "prinzipiell unerkennbare" Higgs-Boson zu "entdecken", welches noch nicht einmal als kantscher "Erfahrungsgegenstand" erkannt werden kann, da für dieses Objekt jegliche Sinnlichkeit fehlt? Eine phänomenalistische Wissenschaft, die sich nur mit Sinneserlebnissen und Vorstellungen beschäftigt, hört auf, die Außenwelt zu untersuchen, und wird zur Geisteswissenschaft oder Psychologie. Der sinnliche Gehalt, welcher etwa im Falle des Higgs-Boson herausspringt, besteht aber lediglich in der Form einer Kurvenerscheinung auf einer Monitorerscheinung. Das ist äußerst unspektakulär. Das sinnliche Erlebnis, das beim Genuss einer Flasche Rotwein entsteht, ist hingegen nicht nur erheblich beeindruckender, sondern auch bedeutend einfacher erreichbar. Wenn man es nun aufgibt, die Außenwelt zu untersuchen, wird es schwierig, aufwändige physikalische oder astronomische Grundlagenforschung ohne direkten Anwendungsbezug zu motivieren.6
Die Evolutionsbiologie beschäftigt sich mit der Entstehung und Ausdifferenzierung biologischer Arten. Kant äußerte in der "Kritik der Urteilskraft" die Ansicht, dass die "mechanische Erklärungsart aller Naturprodukte" aufzugeben sei, weil dies "für uns als Menschen unmöglich ist." Es könne keinen Newton des Grashalms geben. Kant hatte damit aber nur insofern Recht, als die Newtonsche Physik die Organismenevolution nicht erklären kann, das kann nur die Biologie [5]. Kant fasst den Raum als eine apriorische und subjektive Anschauungsform [6] auf. Räumliche Verhältnisse der Außenwelt "an sich" müssen nach Kant entweder völlig unbekannt bleiben oder es gibt sie überhaupt nicht, da der Raum nur eine subjektive Anschauungsform ist. Dies macht es ziemlich mysteriös, wie sich die Fähigkeit zur räumlichen Anschauung in der Tierwelt eigentlich entwickeln konnte. Warum soll es ein Überlebensvorteil sein, komplex aufgebaute Augen [7a] auszubilden, wenn die Außenwelt ohnehin unerkennbar ist? Woher kommen die Selektionskräfte, die die Evolution des Auges vorantrieben? Es gibt nach Kant keine mehr oder weniger adäquate Wahrnehmung der Außenwelt, da letztere schließlich absolut unerkennbar ist. Das Konzept der biologischen Anpassung setzt hingegen eine Außenwelt voraus, die systematisch auf Lebewesen einwirkt und daher gerade nicht "völlig unerkennbar" sein kann. Dass der Affe den Ast, auf den er springen will, verfehlen kann, lässt sich mit einer subjektiven apriorischen Anschauungsform bislang kaum plausibel erklären. Diese für das Subjekt nachteilige Möglichkeit hat ihre Ursache wohl eher in einer Eigenschaft der Außenwelt.
Zwar bleibt es nach Kant möglich, dass die Außenwelt auf einen Organismus einwirkt, da jedoch nicht bekannt ist, ob und wie eine derartige Wechselwirkung stattfindet, ergibt das Konzept der biologischen Anpassung an die Außenwelt durch Variation und Selektion im kantschen Denksystem keinen Sinn. So scheint das Konzept der evolutionsbiologischen Anpassung inkompatibel mit dem schwachen Realismus Kants zu sein. Gegen die biologische Anpassung wird gelegentlich eingewendet, dass es in der Evolution nicht um Anpassung sondern nur um reproduktive Fitness [7b] geht. Das leugnet schlicht die Relevanz der Fragestellung, wie sich Fitness etwa durch ein energetisch teures Sehsystem [7a] überhaupt erhöhen kann. Des weiteren wird auch gleich die Irrelevanz einer ganzen Disziplin, nämlich der Ökologie [7c] behauptet.
Von Kuhle und Kuhle [8] wird der kantsche schwache Realismus verteidigt, indem sie schreiben: "auch dann, wenn man das Apriori als genetische Eigenschaft von Organismen interpretieren würde, wie es die 'Evolutionäre Erkenntnistheorie' vorschlägt, es nicht möglich wäre, das Apriori als Anpassungsstruktur mit dem Milieu kurz zu schließen, denn die Abbildungsbeziehung zwischen biologischer Struktur und einer 'Realität an sich' scheidet auch für den Darwinismus aus." Durch geschickte Formulierungen wird die Außenwelt eliminiert: "Aus der Perspektive einer die Genetik integrierenden, synthetischen Evolutionstheorie folgt [...], dass ein Selektionsmilieu definiert wird über die Individuen, die eine Fortpflanzungsgemeinschaft bilden, und dass die Eigenschaften dieses Milieus durch die Verteilung der Population in einem Lebensraum bestimmt wird." Zwar ist "die Verteilung der Population in einem Lebensraum" für den Verlauf des Prozesses der Evolution relevant, das beseitigt aber nicht die Rolle der Außenwelt bei der Entwicklung von Sinnesorganen. Im abschließenden Fazit bemerken die Autoren lapidar, dass "darwinistische Strukturen [...] in keinem Abbildungsverhältnis zu ihrer Umwelt" stünden. Das scheint offenbar erforschbare Wechselwirkungen zwischen Organismus und Außenwelt systematisch auszuschließen, so dass sich hierdurch ein Konflikt mit der Mainstream-Biologie ergibt.
In einem Gedankenexperiment sei der Fall betrachtet, bei dem drei verschiedene Agenten, ein Mensch, eine Fledermaus und ein autonomer Roboter eine voraus liegende Mauer "erkennen", indem sie ihr ausweichen. Der Mensch nimmt nach Kant die Wand wahr, da er u.a. über die apriorische und subjektive Anschauungsform des Raumes verfügt. Eine "Mauer an sich" kann er aber nicht erkennen. Die Fledermaus kann der Mauer über Ultraschallortung selbst im Dunklen ausweichen. Damit die Fledermaus die Wand erkennen kann, müsste sie nach Kant auch über eine apriorische und subjektive Anschauungsform des Raumes verfügen, die der menschlichen Anschauung insofern ähnelt, als sie der Mauer ebenfalls ausweicht. Es ist nun erstaunlich, dass sowohl der sehende Mensch als auch die hörende Fledermaus insofern "adäquat" auf die Mauer reagieren können, als sie ihre Bewegungen im Raum entsprechend koordinieren und einen Zusammenstoß vermeiden. Wenn man nun die Evolution kantianisch verstehen wollte, müsste man annehmen, dass sich sowohl beim Menschen als auch bei der Fledermaus eine offenbar ähnlich strukturierte räumliche Anschauungsform entwickelte. Wie dies geschehen konnte, lässt sich allerdings nicht so recht erklären, denn die räumliche Struktur der Welt "an sich" ist nach Voraussetzung entweder prinzipiell unerkennbar oder existiert überhaupt nicht. Daher lässt sich die Navigationsleistung nicht als Anpassung an eine reale Außenwelt erklären. Nun stellen wir weiter fest, dass auch der mit Lasersensoren bestückte autonome Roboter der Mauer ausweicht. Wie kann das sein? Verfügt der Roboter ebenfalls über eine subjektiv sinnliche Raumanschauung? Kann er Phänomene wahrnehmen?
Wie dem auch sei, man kann auf alle Fälle sagen, dass die Abwesenheit einer (wenigstens partiell) erkennbaren Mauer "an sich" es zumindest enorm erschwert, zu erklären, wie so verschiedenartig strukturierte Akteure wie Menschen, Fledermäuse oder Roboter Hindernissen ausweichen können und wie diese Fähigkeit jeweils entstanden ist. Wenn man hingegen die Mauer "an sich" nicht nur als existent annimmt, sondern auch noch annimmt, dass zwischen ihr und den Akteuren physikalische Wechselwirkungen stattfinden, über die eine Ortsbestimmung möglich ist, wird die Erklärung bedeutend einfacher. Letzteres ist der Ansatz der Naturwissenschaften. In der "Evolutionären Erkenntnistheorie" wird angenommen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen unseren Wahrnehmungen und der realen Außenwelt, da wir nicht überleben könnten, wenn es diesen Zusammenhang nicht gäbe. Hierbei ist es nicht nötig, die Außenwelt genau so zu erkennen, wie sie wirklich ist, es reicht eine Überlebensadäquatheit. Letzteres muss offenbar gelegentlich dennoch recht genau sein: Der Wanderfalke, der sich mit 300 km/h aus mehreren Hundert Metern auf seine Beute herabstürzt, muss schon genau navigieren, um Erfolg zu haben.
Kritikern der kantschen Denkweise wird gelegentlich vorgeworfen, dass sie Kant einfach nur nicht richtig verstanden hätten. Erstaunlicherweise sind auch eine Reihe von Fachleuten (habilitierten Philosophen) [9] unter diesen angeblich begriffsstutzigen Kritikern7. Bei der hoch komplexen Disziplin der Mathematik scheint es das Problem der "begriffsstutzigen Fachleute" offenbar nicht oder zumindest in bedeutend geringerem Ausmaß zu geben. So entsteht tendenziell der Verdacht, dass es sich im Falle der kantschen Theorie vielleicht um Kritikimmunisierungsversuche handeln könnte. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass es bezüglich Kant in der Fachwelt keine einheitliche Meinung gibt.8
Manchmal begegnet man auch der Meinung, dass die Beziehung zwischen Erscheinung und Außenwelt von Kant eigentlich gut erklärt und im Grunde erstaunlich einfach sei. Die Passage im Wikipedia-Eintrag [10], die das Kant-Zitat [1a] kommentiert, ist dafür ein Beispiel: "Was Kant tatsächlich intendiert, ist mit dem oben angeführten Zitat aus den Prolegomena gut erklärt, es ist im Grunde erstaunlich einfach. Es geht um einen problematischen Grenzbegriff, der die 'Anmaßung' unserer Sinne einschränkt, alles bis ins Letzte erkennen zu können [...]" Sicher schränkt Kant "die 'Anmaßung' unserer Sinne" ein, aber nicht nur darauf "alles bis ins Letzte erkennen zu können", sondern viel weitgehender. Von dem, was die Dinge "an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts". Da steht lediglich "nichts" und nicht etwa "nicht alles". Das wird im Nachsatz noch mal deutlich, wenn Kant das Ding an sich als "gänzlich unbekannt" und nicht etwa nur als teilweise unbekannt charakterisiert. Die Interpretation scheint durch das Kant-Zitat kaum gedeckt zu sein. Es mag zwar "erstaunlich einfach" sein, wenn man die Außenwelt als existent aber unerkennbar postuliert. Im Rahmen der Mainstream-Biologie wirkt dies aber einigermaßen absurd. Dass die Realität partiell adäquat im Sinne der Überlebensmöglichkeit erkannt wird, ist schließlich nicht ein kantsches Postulat, sondern ein Postulat der Evolutionären Erkenntnistheorie.
Schließlich kann man fragen, ob es denn trotz allem nicht doch naiv ist zu glauben, dass sich Erscheinung und Realität trennen lassen? Sind wir nicht doch in einer Welt (der "Matrix") gefangen, wie sie uns erscheint. Wissenschaftliche Resultate machen diese Argumentation jedoch unplausibel: Die Erde scheint flach zu sein, wir wissen aber, dass sie sphärisch ist. Raum und Zeit scheinen subjektiv voneinander unabhängig, die experimentell geprüfte Spezielle Relativitätstheorie zeigt aber, dass Raum und Zeit miteinander verwoben sind. Der physikalische Raum erscheint uns als euklidisch, die Allgemeine Relativitätstheorie zeigt jedoch, dass die Raumzeit durch große Massen gekrümmt wird. Der Raum erscheint uns als etwas statisches. Dennoch erhärten neue Messungen, dass große beschleunigte Massen Gravitationswellen abstrahlen, die den Raum selbst dynamisch verformen [11]. Diese Beispiele verdeutlichen, dass wissenschaftliche Ergebnisse dem widersprechen können, wie uns die Welt nach Kant apriorisch erscheint. So scheint (zwar hypothetisches aber gut erhärtetes) Wissen über die Welt möglich zu sein, ohne dass wir dabei zwingend auf anschaulich zugängliche Strukturen beschränkt sein müssten [3]. Die höchst unanschauliche Quantenmechanik bewährt sich jeden Tag tausendfach bei der Anwendung der Laser-Technik in der Datenübertragung [12]. Das gleiche gilt für die ebenfalls unanschauliche Relativitätstheorie, die täglich die GPS-Positionsbestimmung in unseren Smartphones genauer macht [13].
Ein oft gebrauchtes Argument gegen jeglichen stärkeren Realismus ist der Vorwurf des "Gottesstandpunktes", den erkenntnistheoretische Realisten einnehmen müssten. Da uns die Wissenschaften keine absolut sicheren Erkenntnisse über die Realität bereitstellen könnten, sei eine realistische Deutung von Erkenntnis mit dem aussichtslosen Versuch zu vergleichen, die Welt mit dem "Auge Gottes" als Ganzes von außen sehen zu wollen. Dies sei unmöglich, es bliebe aber immer noch die Möglichkeit eines "internen" oder "immanenten" Standpunktes in der Welt der Erscheinungen. Da wir schließlich keinen Standpunkt außerhalb der Erkenntnisbeziehung einnehmen könnten, so könnten wir auch nie entscheiden, ob etwas im realistischen Sinne zutreffend sei oder nicht. Ob der Realismus sinnvoll sei oder nicht, hänge jedoch gerade von der Entscheidbarkeit ab. Wenn ich also einen weißen Kleinbus vor meinem Haus sehe, so kann ich nur sicher entscheiden, wie ich ihn sehe, aber nicht, wie er in einer von mir unabhängigen Realität an sich ist. Wenn man aber die Frage nach (sicherer) Entscheidbarkeit und (möglicher) Wahrheit auseinander hält, so kann man durchaus davon reden, dass es den Kleinbus unabhängig von mir gibt und dass er "an sich" wohl zwei Frontscheinwerfer hat, auch wenn sich dies nicht absolut sicher entscheiden lässt. Die Ablehnung des Realismus als unmöglichen Gottesstandpunkt hängt nur mit der Forderung nach absoluter Sicherheit zusammen. Absolut sichere nicht-triviale Erkenntnisse gibt es jedoch auch im Rahmen diverser Phänomenalismen nicht, denn die Geschichte menschlicher Irrtümer bleibt davon unberührt. Wenn der Phänomenalismus keine absolute Sicherheit der Erkenntnis garantiert, ist er gegenüber anderen hypothetischen Konzepten nicht privilegiert, so dass nun Kriterien wie Erklärungskraft oder Kompatibilität mit den Ergebnissen der Einzelwissenschaften darüber entscheiden, welches der Konzepte überlegen ist [14].
Fazit
Die Ergebnisse und Anwendungen der Wissenschaft machen es plausibel, dass die theoretische Erkenntnis nicht zwingend durch die Grenzen der unmittelbaren Erfahrung und den direkt wahrgenommenen Phänomenen limitiert wird. Einleuchtend lässt sich bislang die Tatsache, dass sich einige Theorien empirisch bewähren und andere scheitern, nur durch die Annahme einer äußeren Realität erklären, die zum einen nicht vom Subjekt abhängt und zum anderen auch partiell erkennbar ist. Der "externe Gottesstandpunkt" braucht wegen der Annahme einer partiell erkennbare Realität nicht eingenommen zu werden, wenn die bislang fehlende absolute Sicherheit der Erkenntnis berücksichtigt wird. Der schwache Realismus Kants trägt durch seine große Implausibilität erhebliche Kosten, die er nicht durch überlegene Erklärungskraft wettmachen kann.
Literatur
[1a] Immanuel Kant, Prolegomena, 1783, Akademieausgabe IV, S.289: "Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d.i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben, welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichtsdestoweniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. Kann man dieses wohl Idealismus nennen? Es ist ja gerade das Gegenteil davon."
[1b] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., 1787, Akademieausgabe III, S.338: "Wir haben in der transscendentalen Ästehtik hinreichend bewiesen: daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen, sind, die so, wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben."
[2] Alan Musgrave: "Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus", Mohr Siebeck, Tübingen 1993.
[3] Gerhard Vollmer: "Kant und die Evolutionäre Erkenntnsitheorie", in: "Was können wir wissen I", S.206f, Hirzel, 1985.
[4] "Schwacher Realismus", Wikipedia
[5] Rolf Löther: "Kant und die biologische Evolutionstheorie", Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 69, 2004, S.111-118, PDF
[6] Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft B, Transscendentale Elementarlehre, Von dem Raume, 1787, Akademieausgabe, S.53: "Der Raum ist kein discursiver oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung. [...] Hieraus folgt, daß in Ansehung seiner eine Anschauung a priori (die nicht empirisch ist) allen Begriffen von demselben zum Grunde liegt. So werden auch alle geometrischen Grundsätze, z. E. daß in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer sind, als die dritte, niemals aus allgemeinen Begriffen von Linie und Triangel, sondern aus der Anschauung und zwar a priori mit apodiktischer Gewißheit abgeleitet."
[7a] "Augenevolution", Wikipedia
[7b] "Fitness (Biologie)", Wikipedia
[8] Matthias Kuhle und Sabine Kuhle: "Kants Lehre vom Apriori in ihrem Verhältnis zu Darwins Evolutionstheorie", Kant-Studien 94. Jahrg., Walter de Gruyter, 2003 S.220–239, PDF
[9] Rolf-Peter Horstmann: "Was bedeutet Kants Lehre vom Ding an sich für seine transzendentale Ästhetik?", in Horstmann: "Bausteine kritischer Philosophie. Arbeiten zu Kant", Philo Verlag, 1997, 35-53.
[10] "Ding an sich", Wikipedia-Permalink
[11] "Gravitationswellen - Einstein hatte recht", Zeit-Online
[12] "Quantenpunkte: Technische Anwendungen", weltderphysik.de
[13] "GPS", weltderphysik.de
[14] Hans Jürgen Wendel: "Die Grenzen des Naturalismus", Mohr, 1997, S.108f.
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Die große historische Bedeutung der kantschen Philosophie wird selbstverständlich nicht in Frage gestellt. Es wird lediglich die Frage gestellt, ob das kantsche System im Rahmen eines aktuellen Weltbildes noch angemessen erscheint. ↩︎
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Der Begriff "Außenwelt" wird im Folgenden alltagssprachlich gebraucht. Es ist daher nicht die Welt der subjektiven Erscheinungen gemeint, sondern die objektive Realität an sich. Wenn Kant von letzterem spricht, verwendet er den Begriff "Ding an sich". Über das Ding an sich lässt sich nach Kant überhaupt nichts sagen, denn es ist völlig unbekannt (transzendent). ↩︎
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Die Idee von der Matrix-Metapher als Intuitionspumpe kam mir beim Anschauen einer Sendung über Kant, in der Barbara Bleisch den Frankfurter Kant-Forscher Marcus Willaschek interviewt. Ca. 12 Minuten nach Sendebeginn befragt Bleisch Willaschek zur Matrix-Analogie:
Bleisch: "Es gab vor einiger Zeit einen Kinofilm mit dem Titel 'The Matrix' [...] Keanu Reeves spielt darin eine Person, die heißt Neo und Neo findet heraus, er kommt quasi dahinter, dass alle Menschen an einem Computersimulationssystem angeschlossen sind, die 'Matrix' und uns wird eine Realität vorgegaukelt, die es da draußen gar nicht gibt. Und dann gibt es eine wunderschöne Szene, da schneidet er sich in den Finger, der Finger blutet und einer, der auch herausgefunden hat, dass wir nur an die Matrix angeschlossen sind, den fragt er dann: 'Ja aber es blutet doch hier.' Und er sagt: 'Ich dachte, das ist wahr.' Und dann sagt sein gegenüber: 'Your mind makes it real.' Ist das auch ein Bild, was sie für Kant verwenden können? Zuweilen wurde nämlich 'The Matrix' verbunden mit Kant."
Willaschek: "Ich glaube es ist eine Analogie, aber sie führt an manchen Stellen auch in die Irre und zwar genau an der Stelle, wo in der Matrix es ja so ist, dass die Realität, die diese Menschen, solange sie in diesen Apparaten liegen, erleben in Wirklichkeit gar nicht existiert. Es ist ja gar nicht so als wären sie reale Wesen mit Fleisch und Blut, die sich in New York oder sonst wo durch die Gegend bewegen, sondern in Wirklichkeit liegen sie in komischen Behältern und sind an einen Computer angeschlossen. Kant will nicht sagen, dass es einen solchen Gegensatz gibt. Er will nicht sagen, uns erscheint die Welt so, als wäre sie in Raum und Zeit, als wäre hier ein Tisch, aber in Wirklichkeit ist das alles gar nicht so. Insofern ist da, glaube ich, ein großer Unterschied. Es ist aber tatsächlich so, dass Kant meint, dass bestimmte Grundstrukturen der Realität, dass die dadurch real sind, dass wir in einer gewissen Weise denken. Das ist schon, insofern trägt die Analogie, aber Kant will nicht sagen, dass deshalb die Welt, in der wir uns bewegen, die für uns ja die einzige reale Welt ist, die wir kennen, dass das nicht wirklich ist, dass es nur Schein ist, nur Vorstellung ist. Das würde Kant Kant nicht sagen wollen."
Willaschek gibt immerhin zu, "dass Kant meint, dass bestimmte Grundstrukturen der Realität dadurch real sind, dass wir in einer gewissen Weise denken." Ein Beispiel dafür sind räumliche Strukturen, die kantisch deswegen "empirisch real" sind, weil menschliche Subjekte dem sinnlichen Material eine räumliche Anschauungsform aufprägen.
Die Matrix-Metapher entspricht dem sog. Gehirn-im-Tank-Szenario ("brain in a vat"). Dass dieses Szenario von Hilary Putnam und anderen als prinzipiell unmöglich nachgewiesen wurde, ist umstritten. Ob wir Gehirne im Tank sind oder nicht, ist eine "Tatsache an sich", die unter den Annahmen des kantschen Systems ohnehin nicht erkannt werden kann. ↩︎
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Auch bei der sog. Zwei-Aspekte-Interpretation des kantschen Denksystems nehmen wir nur subjektabhängige Erscheinungen wahr, ohne dass irgendein spezifischer Zusammenhang mit der äußeren Realität angenommen werden könnte. ↩︎
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Es ist eine Tatsachenbehauptung, ob Menschen etwas absurd finden oder nicht, welche sich durch Befragungen überprüfen lässt. Wenn zwei Konzepte vergleichbar empirisch adäquat sind und eines davon aber absurd erscheint, wird üblicherweise das andere Konzept bevorzugt. Kant glaubte jedoch, den Nachteil der Unplausibilität dadurch auszugleichen, dass er mit Hilfe seines phänomenalistischen Ansatzes apodiktisch sichere synthetische Aussagen ableiten könne. Es stellte sich jedoch heraus, dass sich auch im Rahmen des Phänomenalismus bislang kein Letztbegründungsverfahren etablieren ließ, womit dieser Vorteil hinfällig wird. Siehe dazu ausführlich "Kants Apriori". ↩︎
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Die Überlegung, dass die Annahme einer transzendenten und damit epistemisch irrelevanten Außenwelt die Untersuchungsgegenstände der Realwissenschaften eliminiert, wurde irrtümlich als Fehlschluss des "Erfahrungsbeweises" (Argumentum ad lapidem) aufgefasst. Bei dieser umstrittenen Schlussform soll eine vielleicht subtil und raffiniert angelegte theoretische Argumentation nur durch den Hinweis auf eine handfeste triviale Tatsache widerlegt werden. Die Komplexität von Argumenten garantiert jedoch nicht deren Schlüssigkeit. Bei Kant besteht die Raffinesse der Argumentation darin, in einem schwer lesbaren Stil zu schreiben und damit (je nach Interpretation) entweder einen logischen Zirkel oder eine nicht beweiskräftige Setzung zu verschleiern. Auch Kant hat das Ziel einer Letztbegründung verfehlt. Siehe dazu ausführlich: "Kants transzendentaler Idealismus" und "Kants Beweis der Idealität des Raumes schlüssig?". Weder der Phänomenalismus noch der Realismus lässt sich bislang letztbegründen oder streng widerlegen, so dass die durch den Phänomenalismus verschärfte Sinnfrage der Grundlagenforschung relevant bleibt. ↩︎
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Rolf-Peter Horstmann [9] stellt fest, dass die "gegenwärtigen Probleme [darin] bestehen [...], eine Deutung der Kantischen Lehre von den Dingen an sich und von Raum und Zeit zu finden, die eine bescheidene Lesart dessen zulassen, was der transzendentale Idealismus will, eine Lesart, die es erlaubt, Kants Position so zu präsentieren, daß sie sich wenigstens als kompatibel mit der einen oder anderen Version des Empirismus oder des wissenschaftlichen Realismus erweisen läßt". Horstmann vertritt die These, dass Kants Theorie es ausschließt, im Rahmen einer solchen Realismus-kompatiblen Interpretation "Kant mit irgendwelchen Dingen an sich liebäugeln zu lassen, bei denen sich die Frage nach dem Vorliegen oder Nichtvorliegen von irgendwelchen Eigenschaften sinnvoll stellen läßt". ↩︎